Gefangen
…bis zum Bersten bepackt machen wir uns auf den ungewissen Weg in den Busch. Je weiter wir nach Südosten vordringen, desto einsamer und menschenleerer wird die Gegend. Wir wollen uns bereits wie die ersten Afrikaforscher fühlen, so unberührt erscheint das Land. Doch auf das Hoch folgt ein gewaltiges Tief.
Kurz vor Überquerung der Kenianischen Grenze werden wir in der Nähe eines Strohhüttendorfes von einem bewaffneten Krieger gestoppt. Das scheint uns noch nichts Besonderes, da wir oft Männer mit Kalaschnikow-Maschinengewehren, einem Überbleibsel der äthiopisch-russischen „Freundschaft“, durch die Gegend wandern sahen. Normalerweise sind die Leute nur neugierig. Diesmal kommt es anders. Die Augen des Mannes blicken aggressiv, feindselig. Seine Worte, von denen wir keines verstehen, verstärken diesen Eindruck. Er will etwas von uns. Es dauert nicht lange und wir sind von unzähligen Menschen umringt – Frauen, Kinder und weitere 20 kriegerisch aussehende, bewaffnete Männer. Man schreit auf uns ein. Wir verstehen nur “Birr” (äthiopische Währung). Angesichts der bedrohlichen Situation sind wir sofort bereit, uns mit unserem letzten äthiopischen Geld „frei“ zu kaufen und kramen dies aus unseren Taschen. Ein Fehler. Denn jetzt entbrennt ein Streit darum.
Die Lage eskaliert. Eine Mutter zeigt Ramona ihr furchtbar entstelltes, in eine rot karierte Decke gewickeltes Baby. Sein Gesicht ist voller eitriger Geschwüre, die Augen zugeschwollen. Die Frau will Arznei. Wir sollen helfen. Aber wie? Wir sind gerade selbst sehr sehr hilflos.
Die Menschen drängen sich um uns, zwischen uns. Wir verlieren Blickkontakt. Unzählige Hände versuchen, unsere Taschen zu durchsuchen. Ich sehe, wie sich jemand an unseren Benzinkanistern zu schaffen macht, kann aber nicht verhindern, dass sie gestohlen werden. Selbst die Kinder werden von der schlimmen Stimmung angesteckt und schlagen mit kleinen Holzstöcken auf uns ein. Die Frau mit dem kranken Kind kratzt Ramona aus Wut mit ihren Fingernägeln Hände und Arme blutig. Ich blicke in den Lauf einer Kalaschnikow und fühle mich so hilflos wie nie zuvor. Unbrauchbare, sinnlose Gedanken schießen durch den Kopf: „Niemand weiß, wo wir sind. Was geschieht mit den Gefangenen eines äthiopischen Stammes? Hier könnte man sehr leicht für immer verschwinden.“.
Ich versuche, auf Zeit zu spielen, zu beruhigen. Etwas anderes bleibt uns sowieso nicht übrig. Doch es beruhigt sich nichts. Im Gegenteil. Ein Krieger ist ein Krieger. Nun streiten sich die Bewaffneten untereinander. Offensichtlich geht es um die Verteilung der Beute. Binnen Sekunden sind die Gewehre entsichert, ein Geräusch, das mir noch lange im Gedächtnis bleiben soll. Unbewaffnete Frauen und Kinder werfen sich schutzsuchend auf den Boden. Sie kennen ihre Männer. Wir sitzen noch immer auf unseren Motorrädern, geben mit Sicherheit ein grotesk dämliches Bild ab. Keiner lacht. Wenn sich jetzt ein Schuss lösen würde…
Das Entsetzen lähmt. Zum Glück. Kurze Gedanken an Flucht werden gleich wieder verworfen. Das Gelände ist schwierig, die sandige Ebene über und über mit Dornbüschen gespickt. Wir kämen nicht weit. Die Aufgeputschten hätten ein einfaches Ziel.
In diesem schlimmsten aller Momente taucht ein mit einer Hose bekleideter Mann (die Krieger tragen nur einen Lendenschurz aus Leder und Ketten aus Raubtierzähnen) auf. Auch er hält sich an einem Gewehr fest und ist, wie sich herausstellt, Polizist. Wir setzen all unsere Hoffnung in ihn, bitten, flehen an. Doch auch er hat deutlich sichtbare Angst vor der aufgeputschten Menge. Doch mehr Hilfe naht. Von dem Aufruhr angelockt, kommen zwei weitere Gesetzeshüter. Sie scheinen eine gewisse Autorität zu haben, wenn auch nicht viel. Denn die Waffen werden auf beiden Seiten erneut entsichert und angelegt. Nach langer Überzeugungsarbeit geben uns die Polizisten zu verstehen, dass wir sie auf die Polizeistation begleiten sollen.
Doch die Krieger wollen ihre schon sicher geglaubte Beute nicht so einfach freigeben. Als ich mein Motorrad starte, stürzen sich sofort zwei Männer darauf und setzen sich oben auf die Packsäcke. Zwei weitere stehen links und rechts auf den Alukoffern. Ich bin erobert. Sicher wieder ein unglaublicher Anblick! Doch mir kommt in diesem Moment der absurdeste und gleichzeitig rationalste aller Gedanken: „Die Idioten brechen meine Koffer ab!”. Das Hirn funktioniert noch erstaunlich logisch und lässt mich und mein Motorrad inklusive Eroberer einfach umkippen.
Nach erneuter, schier endloser Diskussion einigt man sich schließlich darauf, uns die Motorräder bis zur Polizeistation ohne Besatzung schieben zu lassen. Das ist aufgrund des weichen Sandes aber unmöglich, was der gemeine Krieger natürlich nicht versteht. Neue Verhandlung. Am späten Nachmittag geht es dann doch motorgetrieben zur Polizeistation am Ende des Dorfes. Hinter mir sitzt, wie von einem phantasielosen Drehbuchautor geschrieben, ein Polizist mit durchgeladenem Gewehr rücklings auf dem Motorrad und hält die Menge in Schach…