Raue Töne
Sobald ich im japanischen Hafen von Toyama die Fähre mit dem einfallsreichen Namen „RUS“ betrete, brechen andere Zeiten an. Und das liegt nicht daran, dass hier die Uhren auf Sibirische Zeit umgestellt sind. Anders, als im stets freundlich naiven, weichgespülten Japan hat man an Bord sofort das Gefühl, ums „Überleben“ kämpfen zu müssen. Es beginnt damit, dass ich mich selbst darum kümmern muss, zwischen hunderten auf engstem Raum untergebrachten Japanischen Gebrauchtwagen überhaupt Platz für die KTM zu schaffen, um sie vertäuen zu können. Die Deckarbeiter taxieren mich dabei mit Blicken, die in etwa aussagen: „Na, mal sehen ob der das ohne uns hinkriegt. Wir haben nämlich jetzt keine Lust.“
Im Schiff durchbohren mich die gekonnt gelangweilten Blicke der Stewardessen so ganz anders, als die verschämt puppenhaft neugierigen Blicke japanischer Damen. Motto: „Na mein Kleiner! Bin ich zu stark, dann bist Du wohl zu schwach.“
Nach dem Abendessen will ich eigentlich geschafft in meine Koje kriechen. Doch es kommt anders, ganz anders. Oleg läuft mir über den Weg. Erst fragt er ganz harmlos nach dem Woher und Wohin. Dann soll ich mich doch kurz zu ihm setzen. Beim Anblick der halb vollen Wodkaflasche auf dem Tisch hätte meine Vernunft einen ganzen Tag Kopfschmerzen noch verhindern können. Sie tut es nicht. Schnell steht ein zweites Glas für mich da. Der Einstand kann zelebriert werden… Mein Gegenüber kauft, wie fast alle hier auf dem Schiff, japanische Wagen, die nicht mehr durch den gestrengen TÜV kommen und fährt sie in alle Ecken Russlands, um sie da mit Profit loszuschlagen. Seine Augen sind freundlich, wach, stets auf der Suche. Nur an seinem Gang merke ich, dass die fehlende Hälfte der Flasche und wahrscheinlich etwas mehr auf sein Konto gehen. Natürlich kann ich das nicht länger mit ansehen und helfe. Nach einer Weile wird mit Küssen und Umarmungen, etwas in Japan unvorstellbares, die Deutsch-Russische Freundschaft gefeiert. Nach und nach füllt sich der Tisch. Aus dem kurzen Hinsetzen wird ein regelrechtes Gelage mit Schaschlik, Schweinespeck und allen möglichen Speisen, die weniger der Nahrungsaufnahme, als vielmehr nur einem dienen sollen: den Wodka aufsaugen.
Dimitri, einer der Verlader, setzt sich neben mich. Er hat das Erscheinungsbild eines Stieres und erwidert meinen zugegeben provokativ festen Händedruck damit, dass er die Meine fast zerquetscht und dies auch noch mehrmals an diesem Abend probieren will. Er macht nicht gerade einen harmlosen Eindruck; so eher der Typ, bei dem man zweimal überlegt, ob man ihn wirklich nach der Uhrzeit fragen sollte. Ich mag ihn. Und er mich auch, speziell als ich meinen Heimvorteil ausspiele, und zum Erstaunen des Tisches einen russischen Trinkspruch (Der einzige komplette Satz, der aus dem Russisch-Unterricht zu DDR-Zeiten hängen blieb) aufsage. In diesem Moment brechen alle Wodkadämme. Ich kann mich nur noch erinnern, erst nach viel gutem Zureden meinerseits entlassen worden zu sein und so eine halbwegs gelungene Flucht hinbekommen zu haben…
…Abends stelle ich geschafft mein Zelt in einem ausgedienten Steinbruch auf, flüchte leicht überstürzt vor den jetzt aktiv werdenden Moskitos und denke hinter meiner Gazewand über das Warum meines mir im Moment verrückt erscheinenden Unterfangens nach. Schon am nächsten Tag soll ich eine Antwort erhalten.
Der ist anstrengend, heiß und staubig. Und er ist klasse. Als wollte Russland mein Herz im Sturm erobern, so benimmt es sich. Es geht damit los, dass die Sonne unter einem wolkenlosen Himmel aufgeht und die Moskitos vertreibt. Mittags machte ich an einer Raststätte, einer einfachen Bretterbude mitten im Wald, halt. Man serviert leckerstes Schaschlik frisch vom Grill. Doch die Attraktionen sind vielfältiger. Vier muntere Damen, die ich hier nicht erwartet hätte, schmeißen den Laden. Das Vergnügen ist beiderseitig. Sie scheinen sich auch über eine kurzfristige Erlösung aus ihrer „Einsamkeit“ zu freuen. Trotz des geringen gemeinsamen Wortschatzes gelingt uns eine spritzige Unterhaltung. Als ich mich aus triftigem Grund dann doch nicht dazu entschließen kann, just in diesem Moment nach Sibirien zu emigrieren, will eine der Vier auf dem Motorrad mitkommen.
Nächster Halt: Ein kleiner Dorfladen. Magasin heißt der, genau so, wie wir es in der Schule gelernt haben. Sehr nett erfüllen zwei Frauen in den Vierzigern meine im Kauderwelsch vorgetragenen Wünsche. Dann lässt mich eine der beiden staunen. Sie wünscht mir zum Abschied auf Deutsch „Viel Glück“. Nimietzki war in der Schule die erste Fremdsprache. Dies geschieht mitten im Nirgendwo in Sibirien. In den USA habe ich mich auf dem Land schon immer gefreut, wenn die Leute halbwegs verständliches Englisch sprachen. Ein Foto als nette Erinnerung muss deshalb sein. Mittlerweile ist noch eine Oma zum Einkaufen gekommen, die frech meint, dass doch bitte die Babuschka auch mit aufs Bild möchte.
Der Spaß ist noch nicht vorüber. Als ich dann vor dem Laden einen Schluck Wasser trinke, halten zwei Jungs im Auto, unterhalten sich kurz mit mir und fahren weiter. Kurz darauf kommen sie zurück und geben mir noch einen kleinen Talisman mit auf den Weg. Er soll mir Glück bringen und gibt mir die nächste Gelegenheit, erst mal sprachlos zu sein.
Ich habe mein Glück nicht verdient. Denn bei der nächsten Gelegenheit will ich an der Echtheit des Geschenks zweifeln. Wie aus dem Nichts erscheint ein Stück nagelneue Straße, gerade Strecke, Höchstgeschwindigkeit 60. Der erste Polizist nach 1000 Kilometern winkt mich auf die Seite und zeigt mir sein Radargerät, welches bei mir 80 gemessen haben soll. Halte ich nicht für übertrieben geschätzt. „Dokumente bitte! Wo kommen Sie her?“ Ich überlege noch kurz, ob ich, um die Strafe zu mildern, ein armes Land wie Elfenbeinküste oder USA angeben soll. Doch die Angst siegt und beide Namen wollten mir auf Russisch so schnell sowieso nicht einfallen. So bleibt nur Deutschland als Antwort. „Ah, nimietzki! Dawai!!!“ Das ist unmissverständlich. So gut ist mein Russisch noch. Es bedeutet: „Deutscher, Aha! Mach dich los!“ Ich kann mein so einfaches und ungeschorenes Davonkommen gar nicht fassen und bringe nur ein verdutzt-verlegenes „Spasibo“ heraus. Er grinst nur. Und ich vertraue ab jetzt auf den Talisman.
Gegen Abend bin ich ziemlich geschafft. Ein Jeep fährt neben mich. Der Fahrer zeigt wild gestikulierend auf mein Motorrad und dann auf seine Mütze. Drauf steht: „KTM Racing“. Seine nächste Geste ist auch einfach zu verstehen und bedeutet: Etwas in den Mund schaufeln. Klar. Ich nicke. Die ganze Unterhaltung findet typisch Russisch verrückt bei 100 km/h statt. Der Schotter spritzt nur so nach allen Seiten. Doch verstanden haben wir uns.
Im nächsten Dorf werde ich schon heran gewunken. Sergei und sein Kumpel stammen aus Irkutsk und importieren gerade Autos. Zu Hause hat er eine Enduro stehen. „Wir essen gleich hier. Willst Du vorher noch eine Banja haben?“ fragt er mich. Sauna bei 28 Grad Außentemperatur klingt zwar etwas komisch. Aber natürlich lasse ich mich überreden. Nach all dem Staub des Tages kann eine Wäsche nur gut tun.
Der Ofen in der Holzhütte ist den ganzen Tag angeheizt. Man muss nur Wasser aufgießen. Und das tut Sergej so ausgiebig, dass es mir die Luft nimmt. Damit nicht genug. Als ich beginne, gar zu werden, haut er mir noch mit Birkenzweigen über den Rücken, dass es nur so brennt. So gehört es sich. Das Ganze muss, genau wie ein anderes Vergnügen, das Wodkatrinken, mit einem lauten Stöhnen begleitet werden, als ob einem gerade das Schlimmste widerfährt. In Russland wird immer voller Einsatz gefordert…
…In Chita erreiche ich nach 2000 Kilometern Piste wieder Asphalt. Die typischen Plattenbauten der Stadt wirken nach all der Wildnis besonders hässlich. Ich will es zwar nicht wahr haben, aber eine gewisse Erleichterung, es bis hierher geschafft zu haben, macht sich breit. Jetzt sind es nur noch 9000 bis Moskau. Das geflügelte Wort „unendliche Weiten“ bekommt hier eine Dimension.
Ich bin heute zwar erst 200 Kilometer gefahren, aber schon ziemlich kaputt. So halte ich an einer einfachen Hütte, um Frühstück zu machen. Ich verordne mir die größtmöglichen Energiespender: Schaschlik und Kwass, ein Getränk aus vergorenem Brot. Vor dem Haus ist eine Quelle mit einem Brett über einen kleinen Pool, aus welcher ich die Einheimischen ihr Wasser schöpfen sehe. Ich will es ihnen gleichtun und tauche meine Wasserflasche ein. In der Annahme, dass hinter mir auch noch ein Brett ist, trete ich einen Schritt zurück und liege plötzlich rücklings im Wasser. Sämtliche Gäste des Cafes beobachten das Schauspiel. Zu retten ist nichts mehr. So kann ich nicht anders, als auch mitlachen, obwohl mir eigentlich nicht danach ist. Ich triefe. Ausgerechnet heute, nach fünf Tagen von bis zu 30 Grad, beträgt die Temperatur maximal die Hälfte. In dem Moment merke ich, wie fertig ich eigentlich bin. Nach all den Kilometern unter vollster Konzentration war der Reinfall ein sicheres – und relativ schmerzloses Zeichen, etwas langsamer zu machen. Auch recht. Ich besitze eine Telefonnummer von Motorradfahrern in Ulan Ude zwei Stunden von hier, die mir Freunde 3500 km zurück in Wladiwostok gegeben haben.
Eigentlich hatte ich überlegt, die Stadt links liegen zu lassen. Doch mein Zustand macht eine Pause nötig. So frage ich einen Mann, der meinen Auftritt genossen hat, nach einer Belohnung, sprich nach seinem Mobiltelefon, welches etwas angeberisch am Gürtel drapiert ist. Früher hätte ich das nie hingekriegt. Jemand Wildfremden nach seinem Telefon fragen, um jemand Wildfremden in wildfremder Sprache anzurufen, um zu fragen, ob ich, ein Wildfremder, bei ihm vielleicht schlafen könnte. Es gelingt. Unter der Nummer meldet sich jemand. Ich glaube zu verstehen, dass Sergej mich abholen würde und fahre nass und kalt und voller Hoffnung weiter.
Hundert Kilometer weiter kommt mir eine Abordnung von fünf Motorrädern entgegen. Die Kunde vom Gast hat sich breit gemacht. Wenig später sind wir schon Zehn. Aus der Nachbarstadt kommen auch noch vier Mann. Die ist „nur“ 680 km entfernt. So wird in Sergejs Datscha (Russ. Wochenendhaus) kurzerhand eine ordentliche Feier anberaumt. Und ordentliche, russische Feiern haben es in sich. Ich weiß nur noch, dass es zwischenzeitlich in die Banja ging. Der Rest ist nicht unbedingt erwähnenswert, dachte sich mein Hirn und vergaß ihn einfach. In Japan war ich ein gern gesehener Gast. Russland ist anders. Hier werde ich von der Gastfreundschaft regelrecht umarmt.
Je näher ich der Mongolischen Grenze komme, umso weniger ist die Straße von der sie umgebenden Landschaft zu unterscheiden. Kein Wunder, die Rubel für den Straßenbau müssen einen sehr weiten Weg rollen, um bis in die letzten Ecken des Riesenreiches zu gelangen. Ab und zu fahre ich durch kleine Dörfer. An der veränderten Physiognomie der Gesichter merke ich, dass die Mongolei nicht mehr weit sein kann.
Kurz vor der Ausreise schafft es jemand beinahe, mein fast zu positives Bild über die Menschen Russlands zu korrigieren. Bei den vielen angenehmen Begegnungen hätte ja sonst der Eindruck entstehen können, dass da etwas nicht stimmt, ich vielleicht mit einer rosaroten Brille durch die Gegend fahre. Doch endlich treffe ich dann mal auf einen Bösen. Auf einer Brücke. Die ist 200 Meter lang, mit krummen halbverfaulten Brettern belegt und an den schlimmsten Stellen mit dünnen Stahlplatten geflickt.
Dieses Szenario, zusammen mit der grandiosen Aussicht auf den Fluss, wäre sehr fotogen gewesen. Das Verkehrsaufkommen tendiert hier in der weiten Steppe gegen Null. So halte ich mitten auf der Brücke, packe die Kamera aus. Im nächsten Moment kommt jemand schreiend angerannt – der Brückenwart. Diese Institution des Bewachens militärstrategisch neuralgischer Punkte ist mir in den letzten Tagen schon öfter aufgefallen. Sie muss ein Überbleibsel aus dem Kalten Krieg oder noch aus Dschingis Khans Zeiten sein. Dies ist so ein Posten, wie es viele auf der Welt gibt. Keiner traut sich, sie abzuschaffen, speziell nicht, wenn sie an so bedeutsamen Orten wie hier in der sibirischen Steppe liegen. Mit zornes- und wohl auch wodkagerötetem Gesicht steht der Mann dann in seiner wichtig machenden, schwarzen, mit goldenen Streifen versehenen Brückenbewacheruniform vor mir. Seine Worte und Gesten sollen wahrscheinlich bedeuten, dass ich zu verschwinden hätte. Vielleicht könnte ja das hohe Gewicht eines bepackten Motorrades das Bauwerk zum Einsturz bringen.
Ich bin heute besonders guter Laune und kann deshalb seine „Besorgnis“ vollkommen verstehen, fange deshalb auch überhaupt nicht zu diskutieren an. Wenn man sein Leben in einem sechs Quadratmeter großen Häuschen am Ende Russlands absitzen muss, kann man nicht immer auf einem Stimmungshöhepunkt sein. So willige ich ein: „Da, da“, was frei nach „Werner“ in etwa „Ja, ja Meister…“ bedeutet und packe dabei schön gemächlich, weil ein wenig Protest muss ja doch sein, meine Kameraausrüstung wieder zusammen. Ich bin ihm mittlerweile irgendwie dankbar, dass mir auch so etwas mal passiert und ich nicht nur den lieben Menschen über den Weg laufe. Als ich gerade fahren will, dreht sich der Schuft doch noch mal um und will mir doch glatt mein schönes Negativerlebnis versauen. Ganz freundlich meint er plötzlich: „Am Ende der Brücke wäre ein kleiner Hügel, wo ich doch ein gutes Foto machen könnte.“ Das kann ich mir dann doch nicht antun, und lehne bockig, aber innerlich grinsend, ab…